VHD Journal #11
„Fake news“ ist ein Modewort für „dreiste Lügen“ geworden, wenn Politiker:innen an der Macht Propaganda verbreiten, um der Überzeugungskraft problematischer Realitäten wirkungsvoll zu begegnen. In den sozialen Medien finden solche Behauptungen Unterstützung nicht zuletzt dank manipulierter Zustimmungswerte, die den Leser:innen solcher Meldungen Glaubwürdigkeit suggerieren. Verschwörungstheorien finden in der aktuellen Weltlage dank Coronapandemie und Krieg in der Ukraine gläubige Anhänger:innen. Historische Aufklärung ist gefragter denn je, denn immer wieder sollen historische „Fakten“ politische Forderungen oder moralische Urteile in der Gegenwart rechtfertigen. Gleichzeitig ermöglichen die Fortschritte der Informatik (Künstliche Intelligenz) und von Rechnerkapazitäten die Auswertung von Datenmengen und -formaten, die bisher für die historische Forschung nicht zugängliche Einsichten in Sachverhalte der Vergangenheit in greifbare Nähe rücken lässt.
Der 54. Historikertages 2023 in Leipzig hat sich diesen gegenwärtigen Herausforderungen gewidmet und gleichzeitig die alte Grundsatzdebatte aktualisiert, wie die Geschichtswissenschaft methodisch und theoretisch ihren Anspruch rechtfertigt, faktenbasierte Deutungen über die Vergangenheit zu produzieren. In den Leipziger Debatten und Sektionen ging es über die jeweiligen Spezialthemen hinaus darum, sich der Arbeitsgrundlagen zu vergewissern, mit denen Historiker:innen Manipulationsabsichten, aber auch Zweifeln an der Unterscheidbarkeit von Fakten und Meinungen begegnen, wenn es um „historische Tatsachen“ beziehungsweise die Ergebnisse der Geschichtsforschung geht. Historiker:innen wissen, dass geschichtswissenschaftliche „Fakten“ Ergebnis kritischer Rekonstruktionsarbeit sind, die nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie zielgerichtet die Quellen „befragt“. Dies ist die wissenschaftsinterne Ursache dafür, dass Fakten fragile Gebilde sind und der beständigen kritischen Prüfung bedürfen und für neue Deutungen offenstehen. Daraus ergibt sich aber keineswegs, dass ihnen das Vetorecht genommen werden kann, das sie gegenüber politischen Manipulationen zu einer starken Stimme von Widerstand und Opposition im Namen einer moralischen Wahrheit macht. Innerwissenschaftlich funktioniert jede Neuinterpretation nur, wenn die methodischen Regeln bei der Ermittlung und Prüfung von Quellen beziehungsweise Daten streng eingehalten, die Aussagekraft der neu erzeugten „Fakten“ kritischer Überprüfung und der freien Diskussion zugänglich sind.
Die gegenwärtige Geschichtswissenschaft ist sich dieser Paradoxie stärker bewusst als noch vor 50 Jahren, aber sie sieht sich zugleich auch herausgefordert, diese selbstkritische Position zu verteidigen gegenüber Stimmen, welche einseitig die künstlerische, moralische und politische Freiheit zur Ausgestaltung der Vergangenheit betonen und die Geschichtsschreibung als eine primäre literarische Kunst beziehungsweise Interpretationsleistung verstehen und deshalb „Wahrheitsansprüche“ im Namen der Wissenschaft als machtorientierte Übergriffe elitärer Wissenschaft ablehnen. Faktenfindung und Faktenprüfung aber sind aktuell als Kernkompetenz der Geschichtswissenschaft nachgefragter denn je: in der Wissenschaft, in der Schule und im Umgang mit Medien.
Ich wünsche Ihne allen eine anregende Lektüre. Wir freuen uns, dass nach dreijähriger Pause wieder eine Ausgabe des VHD-Journals vorliegt.
Ihr Lutz Raphael
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