Der VHD trauert um Prof. Dr. Julia Obertreis
Der Verband der Historikerinnen und Historiker Deutschlands trauert um Prof. Dr. Julia Obertreis (Mitglied des Ausschusses von 2021 bis 2023). Wir veröffentlichen an dieser Stelle den Nachruf des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker und möchten an dieser Stelle auch auf das digitale Kondolenzbuch hinweisen.
Nachruf auf Prof. Dr. Julia Obertreis
Am 11. Oktober 2023 ist Julia Obertreis viel zu früh, kurz nach ihrem 54. Geburtstag gestorben. Sie wird in der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Osteuropa-Historikerinnen und Historiker eine große Lücke hinterlassen.
Julia Obertreis wurde am 28. September 1969 in Solingen geboren. Auf das Abitur 1988 folgte ihr Studium der Geschichte und Russistik an der Freien Universität Berlin. An der Staatlichen Universität St. Petersburg absolvierte sie 1993/94 zwei Auslandssemester. Der Metropole im russischen Norden sollte sie lebenslang eng verbunden bleiben. Reisen durch Russland und den postsowjetischen Raum führten sie bis nach Zentralasien. Auf ihre Promotion an der FU Berlin folgten Stationen wissenschaftlicher Mitarbeit und Assistenz zunächst in Bochum (2002 – 2004) und anschließend bei Dietmar Neutatz in Freiburg (2004 – 2012). Ihre Professur für Neuere und Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt Geschichte Osteuropas übernahm Julia Obertreis 2012 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Die Innovationskraft des wissenschaftlichen Werkes von Julia Obertreis erhellt die Tatsache, dass beide Qualifikationsschriften grundlegende methodische Trends und konzeptionelle Weiterentwicklungen der Geschichtswissenschaft gleichermaßen widergespiegelt und befördert haben. Beide Arbeiten behandeln Orte und Räume, die sie selbst bereist und erforscht hat: St. Petersburg und Zentralasien. Eine Geschichtsschreibung ohne Ortskenntnis wäre Julia Obertreis widersinnig erschienen. Der spatial turn hat in beiden Qualifikationsschriften seine Spuren hinterlassen. In ihrer Dissertation, die von Klaus Meyer an der FU Berlin betreut wurde, hat sich Julia Obertreis mit der Geschichte des Wohnens und Lebens im Leningrad der 1920er und 1930er Jahre beschäftigt. Für diese Arbeit erhielt sie 2002 den Dissertationspreis der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde. Aus ihren Gesprächen und Interviews mit Zeitzeuginnen des Alltagslebens in Leningrad erwuchs ein ausgeprägtes Interesse an der Oral History, deren Methodik sie mithalf weiterzuentwickeln. So wie Geschichte für Julia Obertreis stets ort- und raumgebunden war, erschien sie gleichzeitig anthropozentrisch – und dies in einem doppelten Sinn. Julia Obertreis interessierte sich nicht nur für die Menschen in der Geschichte und ihre Erinnerungen. Der Satz, dass geschichtswissenschaftliche Erkenntnis sich allein im Gespräch unter Historiker*innen herstellt, war für Julia Obertreis nicht abstrakte Erkenntnistheorie, sondern gelebte Wissenschaftspraxis. Ihre Verbindung von Geschichtswissenschaft und Geselligkeit war beeindruckend, ansteckend, inspirierend und wird unvergessen bleiben.
In ihrer Freiburger Habilitationsschrift wandte sich Julia Obertreis der Geschichte russischer und sowjetischer imperialer Beherrschung Zentralasiens zu. Den langen Untersuchungszeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Sowjetunion bewältigte sie mit einer Konzentration auf die Geschichte von Baumwollanbau und Bewässerung. Julia Obertreis publizierte diese Forschungen 2017 unter dem Titel „Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, 1860–1991“ in der Reihe „Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas“. Mit dieser Arbeit beteiligte sie sich an der weiteren Entwicklung der Umweltgeschichte, Kolonialgeschichte und Globalgeschichte. Wie schon in der Dissertation beschränkte Julia Obertreis sich nicht auf empirische Forschung, sondern verband ihre Arbeit mit einem hohen konzeptionellen Anspruch an sich selbst und intellektueller Neugierde auf neue Trends in der Geschichtswissenschaft. Daraus spricht auch die Entwicklung neuer Forschungsfelder auf ihrer Erlanger Professur. An der Friedrich-Alexander-Universität rückten die Mediengeschichte von Fernsehen und Radio und schließlich die Kulturgeschichte des Rauchens in den Fokus von Julia Obertreis. Ein Buchvorhaben über die Geschichte des Rauchens im östlichen Europa konnte Julia Obertreis leider nicht mehr umsetzen. Zuletzt hat sie sich beeinflusst durch die jüngsten politischen Ereignisse auch intensiv mit der Frage der Dekolonisierung der Osteuropaforschung auseinandergesetzt. Für sie war die längst überfällige Dezentrierung des wissenschaftlichen Fokus weg von Russland nicht nur ein wichtiges wissenschaftliches Paradigma, sondern auch gelebte Praxis – so zuletzt durch die zahlreichen Veranstaltungen, die sie seit der russischen Invasion organisiert hat, um ukrainischen Stimmen ein Gehör zu verleihen.
Ihre wissenschaftliche Bedeutung kam auch in der Wahrnehmung zahlreicher Ämter und Funktionen in der Wissenschaftsorganisation zum Ausdruck. Julia Obertreis war seit 2016 Mitglied des Editorial Board der Zeitschrift Slavic Review. Sie hat 2014 die Reihe „Kultur- und Sozialgeschichte Osteuropas / Cultural and Social History of Eastern Europa“ bei V&R unipress mitbegründet und seitdem mitherausgegeben. Der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde diente sie als Sprecherin der Fachgruppe Geschichte (seit 2018) und seit 2013 Leiterin der Zweigstelle Erlangen/Nürnberg. In den wissenschaftlichen Beiräten des Deutschen Historischen Instituts Moskau, des Forschungsinformationsdienstes (FID) Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, der Forschungsstelle Osteuropa und des Gießener Zentrums Osteuropa war sie ein geschätztes Mitglied – dergleichen im Ausschuss des Verbandes der Historikerinnen und Historiker Deutschlands.
Im Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker (VOH) e.V. hat sie von 2015 bis 2021 als erste Frau den Vorsitz innegehabt. Sie repräsentierte damit einen überfälligen Wandel im Fach der Osteuropäischen Geschichte. Als Julia Obertreis ihr Studium absolvierte, hatten allein Männer die Professuren im Fach inne. Diese Praxis sollte sich lange nicht ändern: Noch in den Berufungsverfahren unmittelbar zu Beginn des 21. Jahrhunderts ging die überwiegende Zahl der Rufe an männliche Kollegen. Julia Obertreis gehörte zu einer Avantgarde von Kolleginnen, deren Berufungen auf Professuren und feministisches Engagement das Fach auch in Hinblick auf mehr Diversität und Chancengleichheit geprägt haben. So hat sich auch wissenschaftliches und gesellschaftspolitisches Engagement für Julia Obertreis nie gegenseitig ausgeschlossen. Öffentlich hat sie sich besonders für den Kampf gegen die Klimakrise, für Europa und die Demokratie, sowie für die Sichtbarkeit von queeren Themen stark gemacht. Zuletzt galt ihr Einsatz vor allem Historiker*innen, die in der Ukraine vom Krieg betroffen waren und unter den Diktaturen in Belarus und Russland über keine wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeit mehr verfügten. Während der Corona-Pandemie hat sich Julia Obertreis zudem mit Nachdruck für die Belange jüngerer Wissenschaftler*innen eingesetzt. Am Wissenschaftszeitvertragsgesetz, das jüngeren Kolleginnen und Kollegen die wissenschaftliche Karriereplanung erschwert, hat sie stets deutliche Kritik geübt. Dieses Engagement hat Julia Obertreis in ihrer Zeit als Vorsitzende auch in den VOH hineingetragen. Der Verband hat unter ihrem Vorsitz an Lebendigkeit und Stimmkraft gewonnen. Dabei hat Julia Obertreis stets ein feines Gespür für die Balance von wissenschaftlichem Ethos und gesellschaftspolitischem Engagement erkennen lassen. Ihre gesellige, Menschen inspirierende und verbindende Praxis hat das Verbandsleben des VOH im besten Sinne geprägt. Mitgliederversammlungen, Verleihungen der Epstein-Preise, Konferenzen und Workshops sowie Vorstandssitzungen hat Julia Obertreis mit ihrem den Menschen zugewandten Umgang ungemein bereichert.
Der VOH verneigt sich in tiefer Trauer vor dem Werk von Julia Obertreis, vermisst sie als Mensch und Kollegin und wird ihr stets ein ehrendes Gedenken bewahren.
Der Vorstand
26.10.2023
Diesen Inhalt empfehlen