Eröffnungsrede des VHD-Vorsitzenden auf dem 51. Deutschen Historikertag

20. September 2016

Hamburg, den 20.09.2016 

Sehr geehrter Herr Erster Bürgermeister Scholz,
sehr geehrter Herr Minister Steinmeier, 
sehr geehrter Herr Botschafter Singh, 
sehr geehrte Frau Vizepräsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, 
liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, 

zum 51. Deutschen Historikertag möchte ich Sie herzlich in Hamburg begrüßen. Wir sind Gast der Universität, ihr und insbesondere dem Organisationskomitee um Markus Friedrich, Monica Rüthers und Alexandra Köhring möchte ich für die Ausrichtung des  Historikertags danken. Unserer besonderer Dank gilt auch der Behörde für Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung sowie der Stadt Hamburg, die nicht nur die Eröffnung in einem so  feierlichen Rahmen ermöglicht, sondern einen großen finanziellen Beitrag geleistet haben. 

Erstmals hat der Historikerverband mit Indien ein Partnerland außerhalb der westlichen Hemisphäre gewählt. Für diese Partnerschaft eignet sich kein Standort so sehr wie das weltoffene Hamburg, das mit Indien in Geschichte und Gegenwart vielfältige Kontakte pflegt. Diesen Beziehungen haben wir übrigens auf dem Historikertag eine Fachausstellung gewidmet, die nur ein Punkt in unserem umfangreichen Programm zum Partnerland Indien ist. Die Wahl eines nicht-europäischen Partnerlands spiegelt das sprunghaft gestiegene Interesse der deutschen Geschichtswissenschaft an der Welt wieder. Wir sind froh, dass unsere Einladung zur Partnerschaft von indischer Seite nicht nur angenommen, sondern politisch und akademisch – vom Indian History Congress und dem Indian Council for Historical Research – unterstützt worden ist. Dafür möchte ich Ihnen, sehr geehrter Herr Botschafter, und Ihnen, sehr geehrter Herr Professor Alam und sehr geehrter Herr Professor Rao, herzlich danken. 

„Glaubensfragen“ lautet das Leitthema unseres Historikertags. Wir tragen damit auch der Tatsache Rechnung, dass Religion in den modernen Gesellschaften an Bedeutung gewonnen hat, nicht so sehr als Glaubenspraxis, aber als Thema der öffentlichen Debatte. Mit der Einwanderung nach Europa nimmt hier die religiöse Vielfalt zu, und daraus ergeben sich neue Herausforderungen für das Zusammenleben verschiedener Religionsgemeinschaften und für das Verhältnis von Staat und Religion. In vielen regionalen Konflikten in der Welt spielen religiöse Identitäten eine herausragende Rolle. Für die Geschichtswissenschaft gibt es also viele Konfliktlagen, die historisch neu zu reflektieren sind, und damit mehr Anstöße aus der Gegenwart für unser Nachdenken über Geschichte als nur die Aktualität von Gedenktagen, die allerdings auch zu beachten sind, wenn es etwa um das bevorstehende Reformationsjubiläum geht. 

Doch wendet sich der 51. Deutsche Historikertag nicht nur speziell dem Feld der Religionsgeschichte zu. Vielmehr geht es um eine breiter angelegte Selbstverständigung über verschiedene Formen des Fürwahrhaltens, also um eine methodische Grundfrage unseres Fachs. In der „Kritik der reinen Vernunft“ unterscheidet Immanuel Kant drei Stufen des Fürwahrhaltens: Meinen, Glauben und Wissen. Für die Entstehung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert ist die eindeutige Unterordnung des Glaubens unter das Wissen fundamental gewesen. „Glaubensfragen“, verstanden im Sinne Kants als objektiv nicht vermittelbares Fürwahrhalten, sind mit der Entstehung der Geschichtswissenschaft aus der akademischen Geschichtsschreibung ausgeschlossen worden. Gegen die Tradierung ungeprüfter Legenden richtete sich das disziplinäre Regelwerk der Historik, welche aufgrund empirischer Forschung und logischem Schlussfolgern nicht zu Glauben, sondern zu Wissen gelangte. Die Zurückweisung von „Kathederprophetie“ – so Max Webers Begriff in „Wissenschaft als Beruf“ – gehört seitdem zum Kernbestand des professionellen Selbstverständnisses der Geschichtswissenschaft. 

Doch sind die Grenzen zwischen Glaubens- und Wissensfragen flüssig geworden. Davon zeugt zum Beispiel der eingeführte Begriff des „religiösen Wissens“, dessen zentrales Kriterium nicht die Überprüfbarkeit eines (geoffenbarten) Wissens ist, sondern die Vernetzung von Wissensbeständen und deren Akzeptanz innerhalb einer bestimmten Gruppe. Ja, selbst viele Theorien, mit denen wir historische Prozesse analysieren, enthalten empirisch nicht zu falsifizierende Elemente, also „Glaubensfragen“. Dafür gibt es paradoxerweise kein besseres Beispiel als die Säkularisierungstheorie, die seit dem 19. Jahrhundert in der Fachdiskussion vielfach als ein weitgehend empirieresistentes Narrativ mit prognostischen Annahmen fungierte. Gerade aus einer postkolonialen Perspektive ist zu unterstreichen, dass unsere westlichen Dichotomien wie „Glauben“ versus „Wissen“ fragwürdig geworden sind. 

Geschichtswissenschaft ist heute auch in ihren Arbeitsformen international. Ein wichtiges Format sind die bi- oder trilateralen Historikerkommissionen, deren Aufgabe es ist, historische Streitfragen zu klären und konflikthafte nationalhistorische Narrative wenn nicht zu versöhnen, so doch zumindest gesprächsfähig zu machen. Wer in diesem Bereich tätig ist, weiß, dass es in diesen Kommissionen stets um die Spannung von Glaubens- und Wissensfragen geht. Nationale Wissensbestände beruhen nicht selten in einem säkularen Glauben und sind weitgehend resistent gegen objektiv daher kommenden Einwände. Nationale Narrative mit den Instrumenten der historisch-kritischen Methode zu befragen und sie, wenn möglich, mit anderen Narrativen kompatibel zu machen, ist das schwierige, aber langfristig sehr ertragreiche Geschäft von Historikerkommissionen. Ich nutze die Gelegenheit, sehr geehrter Herr Minister Steinmeier, Ihnen an dieser Stelle dafür zu danken, dass Sie die Einrichtung einer Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission ermöglicht und zusammen mit Ihrem ukrainischen Amtskollegen Pawlo Klimkin die Schirmherrschaft dafür übernommen haben. 

Kritisches Geschichtsbewusstsein fällt allerdings auch in Deutschland nicht vom Himmel und es kommt auch von den Universitäten, jedenfalls nicht in erster Linie. Das historische Lernen und Erzählen von Geschichte beginnt im vorschulischen Alter in den Familien und wird dann geprägt vom Geschichtsunterricht an den Schulen. Hier entsteht Geschichtsbewusstsein, wenn es entsteht, als eine Instanz der Selbstreflexion, die für die staatsbürgerliche Identität unverzichtbar und der einzige wirksame Schutz gegen die allzu einfachen Denkmuster des neuen Populismus ist. Dass ausgerechnet in der heutigen Zeit der Geschichtsunterricht an den Schulen gekürzt und inhaltlich ausgehöhlt wird, erfüllt uns mit großer Sorge. Es entspricht einer guten Tradition, dass der Historikertag vom Historikerverband zusammen mit dem Verband der Geschichtslehrer veranstaltet wird. Lassen Sie uns gemeinsam, meine Damen und Herren, das dicke Brett bohren, dem Geschichtsunterricht wieder den Stellenwert und die Zeit, d.h. die Stundenzahl, zu verschaffen, die für die staatsbürgerliche Bildung nötig ist. 

Ich wünsche Ihnen spannende und ertragreiche Diskussionen in den kommenden vier Tagen und eröffne den 51. Deutschen Historikertag in Hamburg.

Prof. Dr. Martin Schulze Wessel