Stellungnahme des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. (VHD) zu den neuen hessischen Bildungsstandards und Inhaltsfeldern Stellungnahme des Verbandes zu den neuen Hessischen Bildungsstandards (2010)

18. Juni 2010

Der VHD teilt die vom Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V. vorgetragene Kritik an den hessischen Bildungsstandards und verstärkt sie. Er sieht die Gefahr einer thematischen Beliebigkeit. Geschichte wird enthistorisiert und die spezifischen Möglichkeiten des Schulfachs Geschichte gehen verloren; ferner bleiben die inhaltliche Angaben viel zu vage, um tatsächlich als Kerncurriculum zu dienen; schließlich führt die Erstellung von Kerncurricula zu einer Überlastung und Überforderung der Fachkonferenzen. 

In der gegenwärtigen Form sind die Bildungsstandards daher weder fachwissenschaftlich noch fachdidaktisch akzeptabel. Deswegen fordert der VHD die Beteiligten nachdrücklich dazu auf, sich ernsthaft mit der von vielen Seiten vorgetragenen Kritik auseinanderzusetzen und sie bei der Revision des vorgelegten Entwurfs für die hessischen Bildungsstandards gebührend zu berücksichtigen. 

Mit den neuen, an Kompetenzen orientierten Bildungsstandards für die Sekundarstufe I versucht das Hessische Kultusministerium auf der Grundlage von Beschlüssen der KMK an die jüngeren fachdidaktischen Diskussionen anzuknüpfen und einer übermäßigen Stofffülle in den Lehrplänen entgegenzutreten. Das Ziel der neuen Konzeption wird folgendermaßen definiert: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die einzelnen Inhalte der Fächer, sondern das, was alle Kinder und Jugendliche am Ende ihrer schulischen Laufbahn (oder auch nach wichtigen Abschnitten ihres Bildungsweges) wissen und können sollen (S. 3).1 Lehrerverbände, insbesondere der Geschichtslehrerverband haben die Entwicklung der Standards kritisch begleitet, die 

Kritik ist in Einzelheiten berücksichtigt worden, doch die grundlegenden Bedenken sind nicht ausgeräumt bzw. entkräftet worden. 

Der Historikerverband als Verband der Fachwissenschaft, der auch die Geschichtsdidaktik einschließt, teilt die dort vorgetragene, differenziert begründete Kritik und setzt zugleich darüber hinausgehende Akzente. Diese sind vor allem bestimmt von der Sorge, dass das Schulfach Geschichte von der fachwissenschaftlichen Reflexion abgekoppelt und die structure of discipline des Unterrichtsfaches – mit unabsehbaren Folgen für die Professionalität der Lehrkräfte – zur Disposition gestellt wird: 

  • In seiner gegenwärtigen Form erwecken die Standards den Eindruck der thematischen Beliebigkeit. Es gibt bestimmte Kompetenzen, die mit den unterschiedlichsten Themen verbunden werden können. Geschichte gerät dabei zu einem Steinbruch, der zur Schulung von Kompetenzen benutzt werden kann. Ein solches Konzept muss entschieden abgelehnt werden, da es einer wissenschaftlich fundierten und fachdidaktisch adäquaten Förderung von historischem Denken und Geschichtsbewusstsein die Grundlage entziehen würde. Heranwachsende sollen lernen, mithilfe von elementaren historischen Kategorien, Fragestellungen und Verfahren die Komplexität von geschichtlicher Kontinuität und historischem Wandel zu erschließen. Dazu haben sie nur dort Gelegenheit, wo das Schulfach Geschichte zentrale historische Themen in deren diachronen Zusammenhängen entfaltet und durch Kontextualisierung Kohärenz entstehen lässt. 
  • Der Geschichtsunterricht dient mit der Vermittlung von historischem Orientierungswissen von der Antike bis zur Gegenwart nicht allein der historischen Bildung, sondern auch einer grundlegenden Allgemeinbildung. Selbst diese für andere Fächer hilfreichen Aufgaben sind jedoch nicht mehr gewährleistet, wenn heteronome Funktionalisierung und inhaltliche Fragmentierung das Fach- Curriculum bestimmen. 
  • Der Entwurf für die Bildungsstandards gibt überaus knappe Erläuterungen zu den Inhaltsfeldern (S. 25-27), aber keine thematischen Schwerpunkte, so dass kein Kerncurriculum im üblichen Sinne entsteht. Infolgedessen werden selbst so wichtige und für die Geschichtskultur zentrale Themen wie der Nationalsozialismus lediglich kurz und neben anderen Stichworten als ein möglicher Schwerpunkt bzw. als ein exemplarisches Thema genannt, über das die Entwicklung bestimmter Kompetenzen gefördert werden kann. Der verbindliche Kernbestand eines Faches (S. 4) wird nach der Auffassung der Fachvertreter hier, anders als behauptet, gerade nicht abgebildet. Die Gründe für die Auswahlentscheidungen werden nicht transparent. 
  • Die vorgesehenen Inhaltsfelder („Alltagskulturen“, „Herrschaft“, „Wirtschaft“, „Eigenes und Fremdes“, „Bewältigung und Nutzung von Räumen“) und insbesondere die in den Inhaltfeldern enthaltenen Dimensionen („Gesellschaft“, „Geschlecht“, „Religion“ und „Ideologie“ – S. 21) sind zweifellos diskussionsfähig. Im Entwurf aber bleiben sie viel zu unscharf und entsprechen in ihrer Vordergründigkeit auch nicht dem Stand der fachwissenschaftlichen Reflexion. Zu den Schlüsselbegriffen (S. 6) der Geschichte gehören zweifellos eine ganze Reihe weiterer Begriffe – so etwa Republik, Lehnswesen oder Absolutismus – und deren kritische Reflexion. 
  • Schließlich sieht der Verband mit großer Sorge, dass die Überlassung der Themenauswahl an Fachkonferenzen angesichts des engen Zeitbudgets der Lehrerinnen und Lehrer dazu führen kann, dass diejenigen Themen präferiert werden, die ohnehin den Lehrenden präsent sind. Persönliche Konstellationen und individuelle Schwerpunkte würden das Bild bestimmen. Es kann so nicht einmal sichergestellt werden, dass die Themen … daraufhin ausgewählt werden, inwieweit sie eine Orientierungsfunktion für die Gegenwart haben und es den Lernenden ermöglichen, am öffentlichen Diskurs über Geschichte teilzuhaben (S. 21) – wobei dieses rein präsentistisch formulierte Ziel wiederum in sich fragwürdig ist, da hiermit die Kontrastfunktion der Geschichte aus dem Blick gerät. Dass in dieser Vermutung nicht eine Anmaßung der Universitätshistoriker gegenüber den Schulen liegt, zeigt sich daran, dass die Lehrerverbände diese Kritik teilen. Es ist in keiner Weise zu erkennen, wie auf dieser Grundlage das für erfolgreiches und verantwortliches Handeln erforderliche Können und Wissen (S.3) erworben werden können, zumal die anvisierte Erstellung von Schulcurricula den Lehrenden zusätzliche Leistungen abfordert, sowohl in Hinblick auf die Erstellung von Prüfungsaufgaben als auch hinsichtlich der Lehrmaterialien. Auch daran ist erkennbar, dass eine Vergleichbarkeit der Abschlüsse und Lerninhalte, geschweige denn eine angemessen Qualitätskontrolle bei einer solchen Konzeption nicht zu erreichen ist; die Mobilität der Lernenden würde behindert und ihre Studierfähigkeit weiter vermindert. Insofern wird auch die universitäre Geschichtswissenschaft die für das Fach abträglichen Konsequenzen dieses Konzepts zu spüren bekommen. 

In der gegenwärtigen Form sind die Bildungsstandards aus fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Sicht also inakzeptabel. Die Orientierung auf Kompetenzen mag dazu beitragen, den Konstruktionscharakter von Geschichte bewusst zu machen und die Fähigkeit zur kritischen Analyse und Reflexion zu stärken. Dies wäre unter der Voraussetzung zu begrüßen, dass die im Geschichtsunterricht anvisierten Kompetenzziele aus der Systematik des Faches heraus entwickelt werden. Kompetenzförderung kann und darf nicht durch die Nivellierung von Fachspezifika erreicht werden. Im Gegenteil: Durch ihren nahezu vollständigen Verzicht auf Inhalte unterlaufen die Bildungsstandards in ihrer jetzigen Form gerade die Potenziale, die dem Konzept durchaus innewohnen. Geschichte wird enthistorisiert und die spezifischen Möglichkeiten des Schulfachs Geschichte gehen verloren. Daher fordert der VHD die Beteiligten nachdrücklich dazu auf, sich ernsthaft mit der von vielen Seiten vorgetragenen Kritik auseinanderzusetzen und sie bei der Revision des vorgelegten Entwurfs für die hessischen Bildungsstandards gebührend zu berücksichtigen.