Eröffnungsrede des Vorsitzendes des VHD, Prof. Dr. Martin Schulze Wessel, auf dem 50. Deutschen Historikertag

23. September 2014

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, 
Exzellenz, 
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, 
Magnifizenz, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!

In diesem Jahr, das an Gedenktagen reich ist, feiern wir ein Jubiläum: im Namen des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands heiße ich Sie zum 50. Deutschen Historikertag in Göttingen herzlich willkommen. Wir sind zu Gast an der Georg August-Universität, der mein besonderer Dank für die Vorbereitung des Historikertags gilt. Das Land Niedersachsen und die Stadt Göttingen haben unseren Kongress großzügig gefördert. Lassen Sie mich auch die finanzielle Förderung durch die VGH-Versicherung und  die Stiftung Niedersachsen erwähnen sowie die Unterstützung durch der AKB-Stiftung der Familie Büchting, ohne die wir die Eröffnung heute nicht an diesem eindrucksvollen Ort begehen könnten. 

Nicht nur im Hinblick auf die vielfältige Förderung, die wir erfahren haben, ist die Universität Göttingen eine glückliche Wahl als Veranstaltungsort: Gegründet von Georg August, Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg, der als Georg II. zugleich König von Großbritannien und Irland war, ist die Göttinger Universität in besonderer Weise mit dem Partnerland unseres Historikertags Großbritannien verbunden. 

Göttingen ist auch der Schauplatz einer bis heute denkwürdigen Begebenheit der deutschen Universitätsgeschichte. Ich spreche von den Göttinger Sieben, also von den Professoren, die 1837 gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestierten und deshalb entlassen und zum Teil des Landes verwiesen wurden. Ein großer Teil der Fakultätskollegen war mit den Göttinger Sieben keineswegs solidarisch. Gegen den Verfassungspatriotismus der Göttinger Sieben stand die Mehrheit der Professoren, deren Haltung von Jacob Grimm so charakterisiert wurde: „Was kümmert mich die Politik … wenn sie mich in meiner Behaglichkeit oder in meinen gelehrten Arbeiten stört.“ Gegen den monarchischen Staatsstreich, aber auch gegen die Ignoranz seiner Kollegen formulierte der Historiker Dahlmann, auch er einer der Göttinger Sieben, einen eindrucksvollen Protest: 

 „Gebt mir einen Boden auf dem ich stehe! Solange es bei uns nicht in politischen Dingen, wie seit dem Religionsfrieden Gottlob in den kirchlichen, ein lebendiges Nebeneinander der Glaubensbekenntnisse giebt, eben so lange giebt es keinen Boden in Deutschland, auf dem einer aufrecht stehend die reifen Früchte politischer Bildung pflücken möchte. Kriechen und am Boden auflesen, das wenige Gute unter Unreifem und Wurmstichigem verstecken, damit es nur auf den Markt kommen dürfe, das mag ich nicht.“ 

Ein solches Pathos der Freiheit ist aus der Mitte des bürgerlichen Establishments in Deutschland vorher nicht zu hören gewesen. Britannien war das Land, das für Jacob Grimm den Gegensatz zu den trüben deutschen Verhältnissen darstellte: das „freieste, glücklichste und blühendste Reich der Welt“: „Dort wird nichts so lebhaft gefühlt, so augenblicklich vereitelt und gerächt, als jeder Eingriff in die festgegründeten Rechte beneidenswerther Institutionen.“  In Deutschland hingegen waren die Göttinger Sieben „geschmäht, entsetzt, verbannt [und] … einem tüchtigen Wirkungskreise … entrissen“, wie der Rostocker Rechtsprofessor Georg Beseler 1838 beklagte.  Sie waren, um auf das Motto unseres Historikertages überzuleiten, Verlierer. 

Doch löste ihr Protest eine deutschlandweite Solidarisierungswelle aus, gerade als Märtyrer waren sie Helden, deren Vorbild bis in die Revolution von 1848 und einige Jahrzehnte darüber hinaus wirksam war. Wirkliche Gewinner sind die Göttinger Sieben allerdings auch in der deutschen Erinnerungskultur nicht geworden. Starkes Freiheitsbewusstsein und Liebe zu den Verfassungsinstitutionen haben sich in Deutschland lange nicht herausgebildet. Erst mit der Revolution von 1989 ist das Thema der Freiheit in Deutschland wieder prominent geworden. Wir sind dankbar, dass Sie, Herr Bundespräsident Gauck, heute das Wort an die deutsche Historikerschaft richten werden. Seien Sie uns besonders willkommen. 

Mit dem russisch-ukrainischen Krieg hat das Thema „Gewinner und Verlierer“ eine aktuelle Dimension erhalten. Auch davon wird auf dem Historikertag die Rede sein, ich will dem nicht vorgreifen. Nur so viel: Geschichte wird – im östlichen Europa, aber nicht nur dort – auch als moralische Ressource in Anspruch genommen. In der deutschen Wahrnehmung, teilweise auch in unserer Fachwissenschaft, ist die Ukraine allzu lang nur als Zwischenraum oder als Einflusssphäre ohne eigene Geschichte wahrgenommen worden. Institutionelle Verbindungen gibt es viel zu wenige. Der Deutsche Historikerverband hat bald nach der Revolution auf dem Maidan die ukrainische Historikerschaft in Kiev getroffen, und wir haben nun einen gemeinsamen deutsch-ukrainischen Ausschuss eingerichtet, aus dem eine Historikerkommission entstehen soll. 

Unser Thema “Gewinner und Verlierer“ eröffnet ein reiches Spektrum an Fragen. Nach Gewinnern und Verlierern ist nicht nur in Kriegen und Konflikten zu fragen, sondern auch in historischen Prozessen wie Modernisierung oder Globalisierung. Geschichtswissenschaft hat hier eine Pflicht zur sorgfältigen Buchführung, wer die Gewinner und die Verlierer sind. Zugleich betrifft das Motto unseres Historikertages die Kategorie der Erfahrung. Niederlagen können mit epochalen Erfahrungsschüben verbunden sein, aus ihnen können Einsichten erwachsen, die von großer Erklärungskraft sind. Die Erfahrung, dass alles anders kommen kann als man denkt und plant, ist nur aus der Niederlage, nicht aus dem Sieg zu gewinnen.

Die Geschichte unseres Faches ist methodologisch auf das engste mit der Deutungskategorie „Gewinner und Verlierer“ verbunden. Es ist das positive Erbe des Historismus, die ungeprüfte Übernahme von Siegergeschichten überwunden zu haben: Nicht Legenden nachzuerzählen und Heldentaten zu verklären, sondern menschliches Handeln in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit verstehen, war der seinerzeit revolutionäre Ansatz: Problemen also in ihren geschichtlichen Kontexten auf den Grund zu gehen. Doch hat sich der Historismus mit Geschichtsteleologien verbunden, die den Fortschritt an ihrer Seite wähnten und sich ihrerseits als siegreich verstanden. Es wird auf dem Historikertag auch um eine kritische Reflexion solcher “Hauptstraßen der Geschichte“ gehen. Seitenwege und vermeintliche Sackgassen in der Geschichte aufzuspüren, erfordert einen methodischen Ansatz, der um die heuristische Problematik der Einteilung in „Gewinner und Verlierer“ weiß. Das Denken in vorgegebenen Handlungsmustern der Konkurrenz und des Antagonismus kritisch zu befragen, ist eine der wichtigsten Aufgaben, die das Thema „Gewinner und Verlierer“ stellt.

Versteht man das Thema so, ist es in hohem Maße selbstreflexiv: wir müssen uns fragen, ob unsere Wissenschaftskultur an den Universitäten nicht längst von einer Sprache des Gewinnens und Verlierens geprägt ist, welche die Grundlage unserer wissenschaftlichen Arbeit, die doch in erster Linie auf Kooperation beruht, untergräbt. Vor allem die Exzellenzinitiative hat die Rede von Gewinnern und Verlierern forciert; Wissenschaftsjournalismus hat seitdem viel Ähnlichkeit mit Sportberichterstattung. Damit wird Ideologie, nämlich falsches Bewusstsein, produziert. Die Rede von Exzellenz, Leuchttürmen, etc. rückt vor allem eine für die Wissenschaft wichtige Tugend in den Hintergrund: die Solidarität, wenn es um die Teilung von Forschungsergebnissen, aber auch um die Wahrung von Partizipationsinteressen an unseren Universitäten und im deutschen Wissenschaftssystem insgesamt geht. Denn der Einzug eines puren Wettbewerbsdenkens an die Universitäten, die Etablierung von Ratings und Rankings, sind unausweichlich mit einem neuen Leitungsdenken und neuen Leitungsstrukturen – den Hochschulräten – verbunden, die den Mitwirkungsrechten von Professorinnen und Professoren entgegenwirken. Es war das Bundesverfassungsgericht, das im Juli dieses Jahres in Erinnerung gerufen hat, dass die grundgesetzlich verbürgte Wissenschaftsfreiheit eine Mitwirkung der Wissenschaftler an allen relevanten Entscheidungen erfordere. Dazu gehörten über Forschung und Lehre hinaus auch die Zukunftsplanung, die Organisationsstruktur und der Haushalt der Universitäten. 

Diese Verantwortung wird uns nicht in den Schoß gelegt, wir müssen sie einfordern, und wir sollten sie auch im Sinne der jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wahrnehmen. Ich spreche damit die Personalstruktur an unseren Universitäten an, an denen es im Verhältnis viele Projektstellen und wenige Stellen mit einer langfristigen Perspektive gibt. Dass junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Karriere in Deutschland in der Regel erst ab vierzig planen können, ist ein Missstand, mit dem wir uns nicht einfach abfinden dürfen. Wir brauchen eine zeitlich gestaffelte Umwandlung von befristeten, unselbständigen Stellen in Professuren mit tenure track. Bei einer solchen Reform gäbe es viele Gewinner: Junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die früher Gewissheit hätten und selbständig arbeiten könnten, Professoren, die weniger Projekte administrieren müssten, und vor allem die Wissenschaftskultur in Deutschland. 

Die Universität Göttingen mit ihrem in der deutschen Universitätsgeschichte so einzigartigem Protest der Göttinger Sieben ist der richtige Ort, an diese Themen zu erinnern. Ich wünsche Ihnen interessante Debatten und Diskussionen und eröffne den 50. Deutschen Historikertag 2014 in Göttingen.